Foto: Jakob Fliedner
Nach der Schule wollte Alexander Klessinger eigentlich an die Schauspielschule und ans Theater gehen, aber für einen 19-jährigen, der kurz vor Abschluss seines Abiturs plötzlich erfuhr, dass er Vater wird und Verantwortung
übernehmen wollte, schien das kein
realistischer Weg. Also schrieb er sich
für das Lehramtsstudium an Gymnasien in
den Fächern Politik, Soziologie und Germanistik ein, um „den eigenen
Horizont
in Hinsicht auf den Blick in die Welt umfänglich zu
erweitern und um schnell
Sicherheit für die Familie zu gewährleisten. „Aber ich wollte das auch wirklich, denn Jugendarbeit war auch schon in den Jahren zuvor neben dem Theater meine
zweite Leidenschaft.“
Für die Examensprüfung hat er ein Jahr durchgelernt. „Ich wusste gar nicht, dass man sich so
viel Wissen aneignen kann, wenn man
erstmal den Ehrgeiz entwi-
ckelt, das eigene Leistungspotenzial voll
auszuloten. Eine tolle Erfahrung!”
Als Sohn Julius drei Jahre alt wurde, trennten sich die Eltern. Mit dem Studium ging es dennoch weiter. Das zweite Referendariatsjahr absolvierte er schließlich an einem
staatlichen Gymnasium, was krass war. Was
ich dort vorfand, glich im Vergleich zu
meiner Waldorfschulerfahrung einer Disziplinierungsanstalt. Die absolute Fokussierung
auf Leistung, Standards, Gleichschritt und das Notensystem waren für mich schwer auszuhalten.
als ehemaliger Waldorfschüler hatte ich die
Möglich-
keit, Dinge zu hinterfragen, die für andere
selbstverständlich und gegeben waren,
denn die Motivation musste bei uns
damals ja immer von woanders herrühren als
vom Erreichen einer guten Note. Auch Schulangst oder existenziellen Druck kannte
ich aus meiner Schulzeit nicht.
Auch mit der Anthroposophie hatte sich Alexander während
seines Studiums intensiv auseinandergesetzt und dabei eine
kritische Haltung zu einigen Punkten entwickelt. „es war ein Ringen”, beschreibt er. Als er 2014 an der Waldorfschule Dagfling mit einer 5. Klasse als Klassenlehrer begann, fand
er
ein „harmonisches Kollegium und eine
tolle Schule” vor. „In der Praxis konnte ich viele pädagogische Ansätze dann sehr bejahen – ohne alles bis ins letzte Detail zu teilen.” Der
Workload mit vollem Stundendeputat war allerdings enorm. Das war
ein
krasser Cut und hatte mit dem
Studium nur peripher zu tun. „Als Klassenlehrer – mit dem breiten Fächerkanon in den Epochen – hältst du jede Stunde ja zum ersten Mal. Da kommt keine Routine auf. Ich gab 150% und hatte quasi kein
Privatleben mehr. Das hat mich
kräftemäßig sehr aufgerieben und ich begann meine Tätigkeit zu hinterfragen.
Was dazu kam, war das besondere
Klientel. „Ich war umgeben von privilegierten Menschen aus dem Speckgürtel von München. Das
sind nicht die Voraussetzungen, die man
in der Welt vorfindet, sie spiegeln
nicht unsere Gesellschaft wider”, kritisiert er. Zudem habe er sehr viel Frust bei denjenigen Waldorfschüler*innen erlebt,
die sich eben schwer taten beim Lernen, „da es
total gegen ihre Konstitution ging. Und
ich wollte nicht in der Rolle sein,
den Kindern weiszumachen, dass das jetzt für
ihr Leben so extrem wichtig ist.”
Da die Mutter nach zwei jahren mit dem gemeinsamen Sohn in den Norden Deutschlands zog, war Alexander auf einmal, zusätzlich zu seinem Workload, noch jedes zweite
Wochenende auf langen Zugreisen
unterwegs. Erschöpfung machte sich breit und diese mündete schließlich in einer
Gehirnhautentzündung, die eine klare
Zäsur darstellte. Die drei Monate seiner
Krankschreibung boten ihm die Ruhe und Zeit, noch
einmal ganz in sich zu gehen. „Ich habe
mich mit der Frage beschäftigt, wie ich mein Leben weiter ausrichten
möchte, denn so ging es nicht weiter. Da
ist mir klar geworden, dass das
Lehrer-Dasein 100% meiner Energie braucht.
Aber in mir drin war dieser Wunsch, in die Theaterwelt zu gehen,
immer
noch ganz präsent und beides zusammen ging
nicht.” Kunst und Theater zu machen waren in ihm ein Kokon, der
darauf gedrängt hat, etwas Wesenhaftes zu
entfalten. „Die Verwandlung war schon in
mir veranlagt, das hat etwas mit meinem
Kern zu tun. Und dieser Drang hat immer stärker angeklopft. Das lief über die Jahre im Hintergrund ja auch permanent weiter. Die schönste Zeit im Jahr war die auf dem
Regiestuhl in der Theaterklasse und ich habe einfach gemerkt: Ich muss dem Raum geben, das muss
passieren!”
Mit Anfang 30 kündigte Alexander seinen Lehrerjob und bewarb sich für das Regiestudium an der renommierten Theaterakademie Hamburg. „Die Aufnahmeprüfung ist extrem schwer, aber ich hatte das Gefühl, auf dem richtigen
Track zu sein. Als ich dann angenommen wurde, war es ein
wunderbares Erfolgserlebnis!” Dass dies im Anschluss eine radikale Reduzierung seines inzwischen gewohnten Lebensstandards war – z. B. ein 12 Quadratmeter-Zimmer in einer
WG – machte Alexander nichts aus. „Ich habe mein Ziel im Blick
und lebe meinen Traum!”
Sein Studium hat er komplett selbst finanziert, teilweise mit Gespartem. Zudem hat er vier Jahre lang als Vertretungslehrer an einer Brennpunktschule in Bremen gearbeitet, was in jeder Hinsicht das absolute Gegenteil von dem war, was er bisher als „Schule” kannte. „Heterogenität auf allen Ebenen, kein Geld und definitiv keine behütete Welt. Hier hatte ich das Gefühl, etwas von meinen waldorfpädagogischen Erfahrungen einbringen zu können.“
Inzwischen sind der Studienabschluss auch die Abschlussinszenierung und die Abschlussarbeit gemeistert. Während viele von Alexanders Freunden nun dabei sind, in die erste Phase der Familienplanung zu gehen, beginnt für ihn ein ganz neuer Lebensabschnitt. „Ich bin früh Vater geworden, musste lernen mich zu fokussieren – und habe dafür jetzt Zeit, mich ganz meinem Beruf zu widmen.”
Alexander ist mit 37 Jahren wieder an einem Anfangspunkt. „Ich bin aufgeregt und
neugierig, wo mich das hinführen wird.
Es ist so, als ginge ich in ein großes Meer hinein und ich kann nicht sagen, was
mich da erwartet.”
Text: Alexa Pirich