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Interview mit Lara Kremin

Foto: Lara Kremin, Copyright ©SAS
Foto: Lara Kremin, Copyright ©SAS

War es schon als Schülerin Ihr Wunsch, später einen sozialen Beruf zu ergreifen?


Tatsächlich habe ich mir über den sozialen Aspekt während der Schulzeit wenig Gedanken gemacht. An erster Stelle stand mein Interesse an anderen Kulturen und an Menschen aus anderen Teilen der Erde. Davon getrieben, begann ich 2015 eine Ausbildung in einem Reisebüro. Es war gleichzeitig die Hochphase, in der Menschen aus anderen Ländern in Deutschland und Europa Hilfe suchten − auch in unserem Landkreis, direkt vor meiner Haustür. Also investierte ich als Ehrenamtliche des Bayrischen Roten Kreuzes fast mehr Zeit in die Flüchtlingshilfe, als in meine Berufsausbildung. Meine damalige Chefin unterstützte mich dabei und sah es als ihre Spende, mich monatlich an einem Tag für mein soziales Engagement freizustellen. Ich war täglich mit zwei Welten konfrontiert. Zum einen organisierte ich Reisen für wohlhabende Menschen. und für Summen, deren Höhe für die Geflüchteten auf Lebenszeit unerreichbar scheinen. Mit dem Helikopter von Lodge zu Lodge, stand im extremen Kontrast zur lebensbedrohlichen Flucht mit einem kleinen Schlauchboot auf dem rauen, schäumenden Meer. Mein Gewissen meldete sich zu Wort. Ich hörte im Reisebüro auf und holte mein Fachabitur an den Beruflichen Schulen in Landsberg nach. Ohne Studium konnte ich keinen sozialen Beruf ergreifen, der mich ansprach. Denn nachdem ich aus der geschützten Blase der Waldorfschulzeit entlassen worden war, wurde mir erst bewusst, dass soziales Verhalten nicht normal ist und die Welt Bedarf daran hat.

Was genau sprach sie in Bezug auf ein soziales Studium an?


Ich suchte schon frühzeitig nach sozialen Studiengängen und fand schließlich den in Deutschland einzigartigen Bachelorstudiengang in Richtung Internationale Zusammenarbeit: „Internationale Not- und Katastrophenhilfe“. Davon war ich sofort überzeugt, denn er verbindet soziales Engagement mit Menschen anderer Länder. Der Studiengang wird an einer kleinen privaten Hochschule in Berlin angeboten, der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften. Auch wenn das Studium sehr praxisorientiert ist, so wollte ich von Anfang an ins Berufsleben einsteigen. Deshalb habe ich mich bei LandsAid e.V. in Kaufering beworben. LandsAid e.V. ist eine kleine NGO (Nichtregierungsorganisation), was einer Berufseinsteigerin wie mir Chancen bietet, die bei großen Organisationen kaum möglich sind. So ist es mein Glück, dass meine Bewerbung vor drei Jahren erfolgreich war.

Was ist derzeit ihre Aufgabe bei LandsAid?


Als Mitarbeiterin in der Projektabteilung kümmere ich mich mit meinen beiden Kolleginnen um Projekte in der ganzen Welt. Konkret heißt das, dass wir mit unseren lokalen Partnern vor Ort Projektanträge bei Zuwendungsgebern wie dem BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) oder ADH (Aktion Deutschland Hilft) einreichen. Bei Bewilligung sind wir dann verantwortlich für die Koordination und Abwicklung, wobei – und das grenzt die klassische Entwicklungshilfe von der heute propagierten Entwicklungszusammenarbeit ab – unsere Partner vor Ort selbst die Projekte durchführen, die auf den tatsächlichen Bedarf der Bevölkerung zugeschnitten sind. Um die sichere Verwendung von Spendengeldern oder freien Spenden zu kontrollieren, reisen wir bei mehrjährigen Projekten in die Regionen, um im Zuge einer Monitoringreise die Aktivitäten und Umsetzungen zu überprüfen.

Hat sich durch Ihr Studium und Ihre Arbeit bei LandsAid ihre persönliche Einstellung zu Katastrophen, Notsituationen oder unvorhersehbaren Ereignissen verändert?


Definitiv! Wenn ich mich vorher mit solchen Themen beschäftigt haben, dann lediglich unter einem sozialen Aspekt und mit nahezu blauäugigen Vorstellungen. Durch mein Studium und meine Arbeit bei der Hilfsorganisation LandsAid ist die kritische Betrachtung der Hilfe aufgrund ihrer Komplexität in mir gewachsen.
Was meinen Sie damit, Hilfe kritisch zu betrachten?
Dazu gehört zum Beispiel die Frage: Wie reagieren wir, wenn es um sensible Fragen geht? Nehmen wir beispielsweise FGM (female genitale mutilation). Junge Mädchen verbluten oft bei solchen Eingriffen oder werden langfristig körperlich und psychisch geschädigt. Vor meinem Studium habe ich diesen Eingriff verurteilt und hätte versucht, ihn unter allen Umständen zu eliminieren. Mittlerweile sehe ich so etwas sehr viel differenzierter, habe viel mehr Sensibilität für solche Themen entwickelt. Ich stelle mir Fragen wie: Gehen wir als westliche „Entwicklungshelfer“ in die abgeschiedenen Dörfer und führen Bildungsmaßnahmen durch, um die Bevölkerung und die Dorf- oder Stammesanführer aufzuklären? Wie muss die Argumentation aufgebaut werden, um verstanden zu werden und nicht im Kolonial-Stil aufgezwungen sein? Was passiert in der Zwischenzeit? Es dauert lange, das Vertrauen der Bevölkerung zu erlangen. Liefern wir zwischenzeitlich saubere OP-Messer, Betäubungsmittel oder vielleicht gar Ärzte um die weibliche Genitalverstümmelung unter hygienischen und kontrollierten Bedingungen durchzuführen? Oder lassen wir weiterhin junge Mädchen verbluten, um unsere Aufklärungsarbeit zu rechtfertigen?
Dies ist nur ein Beispiel, um zu veranschaulichen, welche komplexen Überlegungen hinter jeder Entscheidung in der Entwicklungszusammenarbeit stehen und von welcher Tragweite diese Entscheidungen sind.

Haben Sie in Ihrem Studium oder in ihrer Arbeit bei der Hilfsorganisation Not- oder Krisensituationen kennengelernt, die auch Chancen boten?


Eine nennenswerte Konnotation zwischen Krise und Chance ist äußerst makaber. Es gibt klassische Länder für die Entwicklungszusammenarbeit. Staatliche Geldgeber wie das BMZ oder das Auswärtige Amt veröffentlichen jährlich Länderlisten. Diesen ist zu entnehmen, in welchen Ländern Projekte förderungswürdig sind. Heiße Herde wie der Jemen sind aufgrund des medialen Interesses vertreten. Je intensiver die Berichterstattung, desto mehr Geld gibt es. Auch klassische Entwicklungsländer wie die D.R. Kongo oder Kenia sind immer auf diesen Listen vertreten. Diese Länder haben gute Chancen, wenn es um finanzielle Unterstützung geht.
Doch habt ihr vom Brand in Bangladesch am 22. März dieses Jahres gehört? Nicht mal bei Google erscheinen Treffer darüber. Dabei wurde im größten Flüchtlingscamp der Welt in Cox´s Bazar das Camp der aus Myanmar Vertriebenen Rohingyas völlig zerstört. In den Medien gab es keine nennenswerte Berichterstattung, sodass kaum Hilfsleistungen finanziert wurden. Auch jetzt werden dringend WASH (water, sanitation, hygiene) Maßnahmen benötigt. Auch der Sudan oder Länder Lateinamerikas zählen zu den sogenannten vergessenen Krisen, die wenig Chancen auf Förderungen haben.
Damit sind Chancen auch sehr stark von den äußeren Bedingungen abhängig. Wie bewältigen die Menschen, die Sie während Ihrer Arbeit kennengelernt haben, dennoch ihre Not? Was können wir von ihnen lernen?
Die Menschen, die ich im Zuge meiner Arbeit kennengelernt habe, sind resilient. Nach jeder Katastrophe stehen sie wieder auf. Sie bilden sich weiter und forschen. Wenn beispielsweise bei einem Zyklon in Simbabwe wieder der Damm bricht, dann werden neue Pflanzen gezüchtet, die das Flussbett natürlich stabilisieren und durch ihre hohe Saugfähigkeit einen Großteil der Wassermassen aufnehmen. Parallel dazu werden neue Häuserbauweisen von lokalen Ingenieuren erprobt, die immer stabiler werden. Und wenn zur nächsten Zyklon-Saison wieder einiges zerstört wird, dann wird daraus gelernt und es werden weitere Maßnahmen umgesetzt. Es geht nicht um einen Wiederaufbau, sondern viel eher um selbstständige Weiterentwicklung.

Es ist also eine Weiterentwicklungsmöglichkeit, die eine Krise bieten kann?


Ja, außerdem verbinden Krisen. Je schlechter es Menschen geht, desto enger wird das Gemeinschaftsgefühl, die gelebte Solidarität. Ich erinnere mich an den Jahrhundert-Hagel im Juni 2019, der einige Gemeinden hier im Landkreis nahezu zerstört hat. Noch während des Unwetters trafen sich Betroffene auf der Straße, boten sich gegenseitig Hilfe an. Auch beim Hochwasser in Passau reisten damals Bewohner aus unserem Landkreis nach Niederbayern, um den Menschen zu helfen.

Was fesselt Sie so an der Arbeit?


Täglich in die Arbeit zu gehen und etwas mit Sinn zu machen, ist der größte Verdienst. Die direkten Früchte der Arbeit auf Projektreisen zu sehen, motiviert noch mehr. Besonders hervorheben möchte ich das Fazit, welches ich aus meiner ersten Projektreise in Kenia mitgenommen habe: Das Projektpersonal vor Ort ist hochintelligent und gebildet. Sie sind auf Geld angewiesen, ja, aber mehr auch nicht. Sie wissen am besten, wo welcher Bedarf besteht, welche Pflanzen wo angebaut werden sollen und was die Risiken dabei sind. Und sie finden Wege, die Risiken zu umgehen oder sie in Chancen umzuwandeln. Empowerment ist das Schlagwort, welches nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit ermöglicht. Mehr Kompetenz für die lokale Bevölkerung, weniger Macht den ausländischen Gebern oder Helfern. Diesen Ansatz verfolgt LandsAid e.V. konsequent und überzeugend.

Was würden Sie den Schülerinnen und Schülern Ihrer ehemaligen Schule gerne aus Ihren jetzigen Erfahrungen für deren Zukunft mit auf den Weg geben?


Wie bereits zu Beginn gesagt, habe ich mich während der Waldorfschulzeit wie in einer Blase aufgehoben gefühlt. Wird man in das reale Leben entlassen, so ändert sich nochmal einiges, was womöglich zu einer kurzzeitigen Orientierungslosigkeit führen kann. Wer kein Gap Year zwischen Abschluss und der nächsten Station einplant, sollte die angebotenen Praktika während der Schulzeit bedächtig wählen und überlegt nutzen. Was interessiert Euch wirklich? Was ist Euer größtes Ziel? Gibt es notwendige Stationen im Lebenslauf, um dieses Ziel zu erreichen? Wenn ja, kann man diese Station in die Waldorfzeit integrieren? Mit einem übergeordneten Ziel steigt die Motivation für die nötigen Schritte in diese Richtung. Informiert Euch so früh wie möglich über die Angebote fernab traditioneller Werdegänge. Ohne intensive Recherche hätte ich meine Chance aus Unwissenheit nicht nutzen können. Um es mit den Worten Konfuzius´ zu sagen: „Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.“ Mit einer guten Vorbereitung kann dieses Ziel jeder von Euch erlangen.


Herzlichen Dank für den interessanten Einblick!

 

https://landsaid.org/


Text : Verena Fahrion